Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Prof. Dr. Prof. h.c. Jürgen Hillesheim: ''Literaturwissenschaft für Städtebewohner*innen''
Zum Brechtfestival feiert die Augsburger Brechtforschungsstätte die Eröffnung ihres großen Ausstellungsprojekts „Brecht und die Räterepublik“. Zum Thema „Städtebewohner“ sind zwei wissenschaftliche Vorträge mit Forschungsbeiträgen von Prof. Dr. Helmuth Kiesel (Heidelberg) und Prof. Dr. Prof. h.c. Jürgen Hillesheim (Augsburg) im Brechthaus zu Gast.
Do 28.2. / 19.00 Uhr / Staats- und Stadtbibliothek Augsburg:
„…vollends ganz zum Bolschewisten geworden…? Die Räterepublik 1918/1919 in der Wahrnehmung Bertolt Brechts. - Vernissage
Eine Ausstellung der Brecht-Forschungsstätte und der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg.
Zum hundertsten Mal jähren sich nun die Ereignisse, die in Deutschland 1918/1919 beinahe zu einem politischen Umsturz geführt hätten. Eine deutsche bzw. bayerische Räterepublik sollte konstituiert werden. Brechts Drama „Trommeln in der Nacht“, in dem er Andreas Kragler, den Prototypen des „Städtebewohners“, auftreten lässt, wurde angeregt durch die Vorgänge in Berlin und München. Später, im April 1919, befand Brecht sich dann in Augsburg mitten im Geschehen. Dies ist seine erste Begegnung mit dem Kommunismus, die sein Verständnis einer Revolution bis zum Lebensende und die Vorbehalte ihr gegenüber bestimmten. Anlass genug, diese Vorgänge und Entwicklungen in Denken und Werk Brechts in Form einer Ausstellung zu dokumentieren. Eine solche ist nirgendwo sonst auf der Welt so gut realisierbar wie in Augsburg, auf der Basis der einzigartigen Sammlung der Brecht-Forschungsstätte und dem Bestand der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Die Ausstellung ist nach der Eröffnung vom 1. März bis 31. Mai zu sehen. Gleichfalls am 28. Februar wird der von Prof. Dr. Jürgen Hillesheim und Dr. Karl-Georg Pfändtner herausgegebene Katalog zur Ausstellung vorgestellt. Als Autoren konnten renommierte Wissenschaftler aus fünf Ländern gewonnen werden.
Sa 2.3. / 11.00 Uhr / Brechthaus:
Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Universität Heidelberg:
„Dichter der Landschaft" gegen „Asphaltliteraten": eine Grundsatzdebatte der Jahre um 1930.
In den 1920er entwickelte sich Berlin zu einer weltweit ausstrahlenden Metropole der Moderne und zugleich – als Grenzstadt zwischen West und Ost, Kapitalismus und Kommunismus, Demokratie und Diktatur – zu einem „Schlachtfeld“ der Ideologien. Intellektuelle und Künstler*innen aus aller Welt kamen nach Berlin, um sowohl Anregungen als auch Wirkungsmöglichkeiten zu finden. Diese Fokussierung auf Berlin führte in ebendiesen Jahren zum einen zu einer vielfachen künstlerischen Reflexion der Großstadt als Lebensraum; Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) ist gleichsam eine Summe dieser Bemühungen um die dichterische Darstellung der Großstadt und zugleich ein Hauptwerk der reflektierten literarischen Moderne. Zum andern führte die Fokussierung auf Berlin zu einer intensiven Debatte über das Verhältnis von Metropole und Provinz und über die Bedeutung sowohl der Großstädte als auch der „Landschaft“ mit ihren Kleinstädten für die kulturelle und speziell die literarische Entwicklung; in der Berliner Dichterakademie kam es zu einem heftigen Streit zwischen den Berliner „Asphaltliteraten“ und der „Dichtern vom platten Land“. Beides, die Entwicklung der modernen Großstadtliteratur und der Streit über die kulturelle Bedeutung von Groß- und Kleinstädten, wird in dem Vortrag anhand prägnanter Textbeispiele rekapituliert und erörtert.
Sa 2.3. / 12.30 Uhr / Brechthaus
Prof. Dr. Prof. h.c. Jürgen Hillesheim, Brecht-Forschungsstätte Augsburg:
Bertolt Brecht wird „Städtebewohner“. Vom Baum Green bis zur Dreigroschenoper.
Was ist ein Städtebewohner? Wie wird man zu einem solchen, unter welchen Bedingungen, in welcher Gesellschaft hat man sich durchzusetzen, um einer zu werden? Dies beschreibt Brecht nicht erst in seiner „poetischen Anleitung“ „Aus dem Lesebuch für Städtebewohner“, sondern schon zuvor, 1922, im Gedicht „Morgendliche Rede an den Baum Green“. Hier gerät ein kleiner, unscheinbarer Baum auf einen lichtarmen und engen Hinterhof. Er kann sich hier festsetzen, und seine Biegsamkeit lässt ihn jeder Herausforderung trotzen, bis er eine ungeahnte Höhe erreicht und sich etabliert hat in der Asphaltstadt.
Dies ist der Hintergrund, vor dem man auch Brechts Entwicklung zu einem „Städtebewohner“ der Weimarer Republik deuten kann. Seine moralische Flexibilität, die Fähigkeit des, wie er sagt, „Lavierens“, des „sich Einrichten Könnens in Deutschland“, führte zum Erfolg. Geschafft hatte er es 1928, mit der „Dreigroschenoper“, die für Brecht den internationalen Durchbruch bedeutete – mit einem Werk, in dem er genau die Gesellschaft analysierte, zu der er selbst unbedingt Zugang gewinnen wollte.
Eine Veranstaltungsreihe der Brecht Forschungsstätte Augsburg.
Ort: Brechthaus
Tickets: Eintritt frei
Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Jahrgang 1947, studierte in Tübingen Germanistik und Geschichte, wurde aufgrund einer Arbeit über literarische Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller promoviert und aufgrund einer Arbeit über Alfred Döblins Exil- und Spätwerk habilitiert. Von 1987 bis 1990 war er Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Bamberg, von 1990 bis 2015 Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg. Er ist Mitarbeiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zahlreiche Publikationen zur Literatur des Humanismus, der Barockzeit, der Aufklärung und des 20. Jahrhunderts. Kiesel gilt als einer der bedeutendsten Kenner der Literatur der Weimarer Republik.
Prof. Dr. Jürgen Hillesheim, Professor der Universität Augsburg, Professor h.c. der Staatlichen Iwan-Franko-Universität Zhytomyr, UA, ist Leiter der Brecht-Forschungsstätte Augsburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von über dreißig Büchern und über hundert Buch- und Zeitschriftenbeiträgen zu Themen der Neueren Deutschen Literaturgeschichte, Mitherausgeber des Brecht-Jahrbuchs und etlicher anderer Zeitschriften und Buchreihen und gilt weltweit als einer der renommiertesten Brecht-Forscher.